«Ich hole Sie am Dorfplatz ab …», schrieb Rachel Harnisch, als wir unser Gespräch vereinbarten. Und nun ist es zehn Uhr, ein strahlender Sommer-Sonntagmorgen, wie aus dem Bilderbuch, und das Postauto Nr. 652 biegt durch die engen Kurven auf den Dorfplatz ein. Ich steige aus, Rachel Harnisch ist schon da. Mitten in Ernen, einem winzigen Dorf, fast am Ende der Welt in den Walliser Bergen, aber wunderschön mit alten, von der Sonne schwarz gefärbten Holzhäusern. Auch dies: wie aus dem Bilderbuch.
Rachel Harnisch: aparte Schönheit und verführerische Stimme zwischen Oper und Konzert © René Ruis
Rachel Harnisch, gross und schlank, spricht Wallisertiitsch, einen jener Schweizer Dialekte, die man als «Üsserschwiizer» (also jemand aus einem anderen Kanton) fast nicht versteht. Zum Glück ist Harnischs Dialekt gemässigt. Sie hat schliesslich inzwischen mehr mit anderen Sprachen zu tun und lebt heute in Zürich. Der melodiöse Klang des Wallisertiitsch ist allerdings geblieben. Denn geboren und aufgewachsen ist sie in Brig, nur wenige Kilometer von Ernen entfernt.
Kraftort Ernen
Seit 47 Jahren findet hier in Ernen unter dem Titel «Musikdorf» ein kleines, aber hochkarätiges Musikfestival statt, an dem auch Rachel Harnisch immer wieder gern teilnimmt. Dafür gibt es einen Grund. «Es ist das Unaufgeregte, im Gegensatz etwa zu manchen anderen prestigeträchtigen Festivals. Man ist hier wie in den Ferien, und tritt am Abend noch auf. Das schenkt einem Ruhe. Und diese Kirche ist so schön. Jetzt ist die Kirchentür während des Konzerts offen und wenn man auf der Bühne steht und durch die Tür ins Tal schaut, dann ist das sehr inspirierend. Ein esoterisch angehauchter Mensch könnte das als Kraftort bezeichnen ...», meint sie lächelnd.
Am Abend zuvor ist sie hier mit einem Liederabend aufgetreten, der als «Jazzkonzert» im ursprünglichen Programm steht. «Also Jazz mache ich nicht», stellt sie gleich klar. «Das würde ich mir nie anmassen. Aber vor ein paar Jahren hat es sich zusammen mit dem Charl du Plessis Trio ergeben, dass wir ein bisschen improvisiert haben. Ich finde, man darf Klassik nicht als so heilig betrachten. Zu Zeiten von Mozart und Schubert nahm man das auch lockerer.» Nur: durch die Corona-Reise-Beschränkungen konnte Charl du Plessis nicht aus Südafrika anreisen, der Pianist Jan Philip Schulze, mit dem Harnisch viel auftritt, war im letzten Moment verhindert und nur Stunden vor dem Konzert konnte Cédric Pescia einspringen. Der Abend war gerettet … und lief nun unter dem höchst aktuellen Titel «Fernweh … eine Liederreise für Quarantänegeplagte». Mit Liedern von Schubert, Lehar, Gershwin, Richard Strauss und Mahler hat Harnisch, im schmalen schwarzen Spitzenkleid und umgeben von barocker Kirchen-Pracht, das Publikum verzaubert. Und zwar barfuss. «Ach, das mache ich nach Lust und Laune, es ist gerade Sommer und an einem Liederabend ist man immer exponiert. Barfuss fällt eine gewisse Schwere weg. Mit High Heels, die ich sonst tragen würde, hat man mehr Distanz zum Boden. Man muss selber herausfinden, was einem am besten liegt und wie man optimal zum Klang werden kann.»
Dem Talent verpflichtet
Ihre Jugend hat Rachel Harnisch in Brig verbracht, aber keineswegs in einer Künstlerfamilie. «Meine Mutter hatte zwar eine gute Stimme und sang im Kirchenchor, aber meine Eltern besassen ein Schuhgeschäft in Brig und meine drei Brüder machen alle etwas anderes.» Trotzdem hat sie früh gespürt, dass sie Talent hat. «Und diesem Talent fühle ich mich verpflichtet. Ich wusste, dass ich nach einer künstlerischen Ausdrucksmöglichkeit suchen musste. Dass es dann die Stimme war, ist eher ein Zufall. Es hätte ebenso gut ein Cello sein können.»
Kaum hatte sie ihre Ausbildung beendet, stand sie schon auf den internationalen Bühnen. Einer ihrer wichtigsten Wegbereiter wurde Claudio Abbado, diese Lichtfigur unter den grossen Dirigenten. «Er war einer, der nicht viel geredet hat. Ich bin auch so und das hat uns verbunden. Ich finde es immer verdächtig, wenn ein Dirigent erst einmal stundenlang einen Vortrag hält. Es steht doch schon alles in der Musik! Und wenn man es geschafft hat, auf einem Niveau zu singen, das einen bis zu Abbado führt, dann sagt er einem in der Probe nur noch: du kannst das, ich respektiere deine Sichtweise, wir probieren es einfach aus.» Sie habe bei Abbado gelernt, dass Proben reines Organisieren sei, sagt sie. Erst im Konzert entfalte sich das Ganze. «Dann holt man das Beste aus sich heraus … das ist ein Mysterium.»
Inspirierend nicht nur für Rachel Harnisch: der Blick aus der Kirche Ernen ins weite Tal
Und dieses Mysterium macht schliesslich den Unterschied. «Es gibt Musiker, die spielen absolut perfekt – und es berührt einen überhaupt nicht …» Auch das Publikum müsse eben bereit sein, die Musik im Innersten auf sich wirken zu lassen. «Ich kenne das auch: es gibt Vorstellungen, bei denen man anfängt und sofort merkt, oh, es wird schwer … Wenn das Publikum nicht will, kann man oben auf der Bühne den Hampelmann bis zum Blutvergiessen machen und geht am Schluss frustriert nachhause. Ich glaube, das hat mit Energie zu tun …»
Kompromisse in der Oper
Das zweite Standbein ist für Rachel Harnisch die Oper. Mit einer Einschränkung. «Ich finde, in der Oper macht man extrem viele Kompromisse. Liederabende sind das Intimste und als Künstler kann man sich frei von Kompromissen präsentieren. Es gibt keine störenden Elemente und die Nuancen gehen nicht verloren. Das hat auch etwas Reinigendes, denn in der Oper hat man die Tendenz, auf Kraft zu gehen, weil man ein grosses Orchester hat, hinter dem man auf der Bühne steht. Es ist oft frustrierend, was da an Nuancen verloren geht. Das Wichtigste beim Singen ist für mich immer der Text und an einem Liederabend kann man alle Feinheiten ausloten und die Farben ausdrücken.»
Während aber viele Opernsänger ihre liebe Mühe mit heutigen Regisseuren haben, sieht Rachel Harnisch das anders. «In den zwanzig Jahren, in denen ich diesen Beruf jetzt ausübe, hatte ich persönlich nie eine Situation, in der ich mich hätte verstellen müssen.» In einem festen Opernensemble war Rachel Harnisch nie. «Rückblickend hätte ich mir aber gewünscht, zwei oder drei Jahre in einem Ensemble zu sein, um herauszufinden, wer bin ich, was kann ich und was will ich. Stattdessen habe ich mich irgendwie verloren und bin von einem Ort zum anderen gereist. Mit zwanzig denkt man, man muss alles machen, sonst ist der Zug abgefahren. Ich glaube, da braucht man ein grosses Selbstbewusstsein, also nicht Stolz, um sich von all den Anforderungen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Heute bin ich 47, aber es ist immer wieder eine Herausforderung, sich in einer neuen Produktion zu präsentieren.»
Dass ihr dies heute mit der nötigen Ruhe auch gelingt, hängt ganz stark mit ihrer familiären Situation zusammen. «Ich habe zwei Töchter und einen phantastischen Mann, der alles macht, wenn ich unterwegs bin. Er kommt aus einer Musikerfamilie, spielt selbst Klavier, ist aber Architekt. Es ist schon wichtig, dass der Partner das nötige Verständnis hat. Mein Leben hat erst richtig angefangen, als ich meinen Mann kennengelernt habe. Vorher war ich so mit mir allein und extrem gestresst mit mir selbst. Heute bin ich viel gelassener und die Kinder haben alles in ein anders Licht gerückt. Ich glaube, damit bin ich auch besser geworden. Aber gesamthaft bleibt es eine Riesenorganisation … Es funktioniert alles, auch die Kinder machen gut mit, und ich versuche, meine Engagements so zu organisieren, dass ich notfalls, wenn etwas passiert, noch am gleichen Tag wieder zuhause wäre.»
Von Janacek in Berlin zu Janacek in Genf
Das Konzert in Ernen war für sie das erste nach Monaten der Corona-Zwangspause. Und wie hat sie diese Zeit verbracht? «Ich muss sagen, irgendwie habe ich diese Entschleunigung, die plötzlich in die Welt gekommen ist, genossen …» Zuvor war sie noch in Berlin höchst erfolgreich in Leos Janaceks «Jenufa» aufgetreten. «Deshalb war ich ganz froh über die ersten Konzerte, die wegen Corona nicht stattfanden … Eine Herausforderung war die Betreuung der Töchter, als die Schulen geschlossen wurden. Man hatte Angst, dass die Kinder auf der Strecke bleiben … Ich war dann ständig am Einkaufen und Kochen. Eigentlich habe ich ja nicht viel gemacht, aber abends war ich total k. o. …»
Von Janaceks «Jenufa» kann Rachel Harnisch zu Beginn der neuen Opernsaison einen Bogen schlagen zur «Sache Makropoulos», ebenfalls von Leos Janacek. Diesmal aber am Grand Théâtre in Genf. Immer vorausgesetzt, es kommt nicht alles anders, wegen Corona … «Das Orchester spielt die Musik jetzt bereits auf Band ein, denn möglicherweise darf es in der Vorstellung gar nicht live spielen. Diese Variante ist zwar nicht wirklich erstrebenswert, aber … tja …» Aviel Cahn, der neue Intendant in Genf, hatte Rachel Harnisch diese Rolle vor vier Jahren an der Flämischen Oper in Antwerpen angeboten, die er damals leitete. Der Erfolg war überwältigend. Nun soll es in Genf weitergehen. «’Die Sache Makropoulos’ hat mich ein bisschen versöhnt mit dem Opernzirkus», sagt Harnisch. «Ich hatte schon eine Professur angenommen, weil ich dachte, ich will den ganzen Rummel nicht mehr, dann ist genau mit dieser Produktion bei mir die grosse Lust auf Oper wiedergekommen. Dafür bin ich extrem dankbar. Es ist ein Feuerwerk, kein Takt zu viel, Text und Libretto sind genial.»
Gut möglich, dass mit der «Sache Makropoulos» nach der langen Corona-Pause auch beim Publikum die grosse Lust auf Oper wiederkommt.
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